Barfuß unterwegs

Mich zieht es ins Tobel, zum Wasser, ich höre es schon rauschen, es muss steil herunterfallen und viel sein, es tost

in meinen Ohren und ich fühle die feuchten Wassernebel, welche hier zwischen den Bäumen hängen, auf meiner erhitzten Haut. Ich sehe uns am Rheinfall in Schaffhausen. Ich steige einen schmalen Pfad zick-zack bergan, direkt neben dem Bergbach, in welchem viele Hochwasser- und Lawinenschutzstufen eingebaut sind, ganz nass und glitschig, von der Gischt und dem Regen der vergangenen Tage, sind die Steine und die Erde unter meinen Trekking-

schuhen.

Ich setze ganz langsam einen Fuß vor den anderen, mein Blick ist zur Erde gewandt, nehme alles wahr, was jetzt ist,

die Schnecke am Wegesrand, den Wassertropfen auf dem Blatt, die Farbe und Form des Steines, bevor ich ihn betrete, um den reißenden Bergbach zu bestaunen halte ich inne, bleibe stehen und gebe mich ganz in das Erleben

hinein. Mein Weg führt mich über Stege und Brücken, ich lausche den Vogelstimmen, dem Wasser und meinem Atem.

 

An der nächsten Wegebiegung werde ich nochmals herausgerissen aus meinem Erleben, wieder ein paar Wegweiser,

die eine Entscheidung von mir verlangen, unter vielen Angeboten wähle ich "Hirschberg über Steinköpfle 1 Std. 30 Min."

Denke, das ist genug, mache eh viele Pausen, gehe viel langsamer als angegeben und muss ja irgendwie und irgendwann wieder unten im Tal ankommen, vor Einbruch der Dunkelheit.

 

Jetzt ist es nur noch ein Bergsteig, ganz steil, Erde, Steine, Wurzeln wechseln sich auf dem Untergrund ab, an manchen Stellen passt nur noch einer meiner Füße auf den Weg, welcher jeweils nach ca. 2 Metern die Richtung wechselt und sich so den Steilhang empor schlängelt.

Der Steilhang ist hier noch bewachsen mit Sträuchern und halbhohen Kiefern, so dass ich nur selten einen freien Blick ins Tal habe, jedoch sehr wohl sehen kann, dass es neben meinem Fuß senkrecht mehrere Meter hinunter geht und ich mich auf der Bergseite im Stehen an den Hang lehnen kann, es scheint extra für mich soviel Boden geblieben zu sein, um die Möglichkeit zu haben, mich auf meinen Füßen himmelwärts zu bewegen, weg aus der von "Menschen-

hand gemachten Welt".

 

Ich liebe solche Bergpfade und nach wenigen Metern fühle ich mich gezwungen, meine Trekkingschuhe auszu-

ziehen, es ist als wenn ich ein Heiligtum betrete, mich in einem Tempel aufhalte, den Boden unter meinen Füßen zu spüren, mal die angenehme kühle feuchte Erde, die weichen Tannennadeln, vom letzten Jahr, die glitschigen Steine,

ich verbinde mich mit Mutter Erde, bei jedem Schritt etwas mehr.

Ich spüre den Pulsschlag der Erde durch meine Fußsohlen, durchströmt er meinen ganzen Körper, zuerst wird mir etwas schwindelig, bis ich mich an die hohe Schwingung gewöhnt habe und selbst diese Schwingung bin, ich bin Atem

und Bewegung und Wahrnehmung, verbunden mit dem ganzen SEIN. Der Flügelschlag der Insekten, der Wind in den

Bäumen, das entfernte Rauschen des Baches, die aufjaulenden Motoren der Motorräder, die den Oberjochpass hin-

unter oder hinauf tanzen, die Glocken der Kühe, das Blöcken der Schafe, die Säge unten im Tal, das Flugzeug über mir am Himmel, die Vogelstimmen zwischen den Bäumen, mein Atem, das alles ist Ein Klang, ist Musik, ist das Lied der Erde, von Anbeginn der Zeit.

Mit jedem Schritt tauche ich weiter ein in das Sein, meine Fortbewegung, meine Bewegungen folgen jetzt einem Rhythmus, einem Takt, zudem ich gehöre, der nicht von mir gemacht wird, ich bin Teil davon. Da hält mein Bein

einen Augenblick inne, ohne die Bewegung wirklich anzuhalten, um eine Ameise mit ihrer schweren Last über den

Weg ziehen zu lassen. Ich sehe, wie wir gemeinsam die großen Waldameisen bei ihrer Arbeit in der KZ-Gedenkstätte

Mittelbau-Dora beobachten.

 

Der Pfad ist wenig begangen und gesäumt rechts und links von hohen Gräsern und wundervollen Bergblumen in bunter leuchtender Farben- und Formenvielfalt, die Haut meiner Beine wird bei jeder Bewegung gestreichelt, was sich anfühlt, wie eine Welle, die durch meinen ganzen Körper fließt. Ich sehe Hummeln, auf blauen Kornblumen, Bienen,

welche gerade in eine kleine Glockenblume verschwinden, sodass nur noch ihr Hinterteil herausschaut, Schmetter-

linge, die über den Weg tanzen, sich für kurze Momente auf einer Blüte ausruhen. Ich kenne all diese Bilder, ich habe

sie zuhause, auf meinem Laptop, es sind Bilder des Seins, das Sein ist überall, wir treffen uns im Sein, im Sein sind wir alle miteinander verbunden, es entsteht ein Frieden und eine Glückseligkeit in mir, welche ich nicht in Worte fassen kann, ich wünsche mir, dass es jeder Mensch erleben möge.

Dieses Gefühl begleitet mich den ganzen Tag. Solange ich in diesem Sein bin, ist mein Gang ein Tanz, ein Schweben,

ich habe nicht wirklich einen Körper, aber ich bin. Ich fühle keinen spritzen Stein, ich bin der Weg, ich fühle keine

Anstrengung beim Bergansteigen, ich werde bewegt, ich habe keine Gedanken, ich werde getragen, beschützt und geführt, bin eins mit allem was ist.

Über dieses Gefühl und diesen Rhythmus der Erde, welchen ich durch meine Fußsohlen aufnehme, steigen Bilder

in mir empor, meine alte Seele erinnert sich, wie viele tausend Male sie diesen Rhythmus schon unter ihren nackten

Füßen gespürt hat, Füße, die immer wieder zu anderen Körpern gehörten, ganz verschiedene Landschaften berührt und durchwandert haben. Zuerst sehe ich das Hirtenmädchen, das die Schafe hütet und seine helle Freude hat an dem schwarzen kühlen Schlamm, der sich durch ihre Zehen drückt. Dann gibt es die Füße, die mich durch Indianer-

land tragen, auf anderen überquere ich einen Hochpass in Tibet und in ganz vielen Bildern durchquere ich karge Landschaften und Wüsten in Israel und Ägypten.

Ein Glücksrausch ist es, in welchem ich mich jetzt befinde, ein unbeschreibliches Gefühl von Geborgenheit und er-kennen der Wahrheit, eingebettet in dieses Sein, stehe ich plötzlich auf einem Felsvorsprung, der mir den Blick ins

Tal freigibt, wie eine Modelleisenbahnlandschaft liegt die von "Menschenhand gemachte Welt" tief unter mir, ihre

Geräusche dringen zu mir empor, in der Ferne, all die großen Berge der Alpenkette, deren Gipfel teilweise in Watte-wolken versteckt sind und über mir der wolkenlose blaue Himmel.

"Deswegen bist du hier, um den Himmel mit der Erde zu verbinden, den Menschen den Weg ins Sein zu zeigen, sie mitzunehmen, sie zu entführen in die Ewigkeit."

Ich setze mich zwischen die Gräser und Blumen auf diesem Felsvorsprung, hänge meine Beine über den Abgrund,

hole aus meinem Rucksack Kaffee und Nussecke, freue mich meines DASEINS und des Kitzelns der Schmetterlings-

beine auf meinen Waden. Glücklich und zufrieden bin ich, glücklicher könnte ich gar nicht sein

                                                                                                                                                                                                                                                                                  Autorin: Ingrid Hartmann

                                                                                                                                                                                                                                                                                  (aus "Eine Liebeserklärung")

 

Foto: Annette